Wie die Grenzkosten der Stromerzeuger die Merit Order bestimmen

Auf Commodity-Märkten leitet sich der Preis von den Grenzkosten der Produzenten ab. Dieser marktwirtschaftliche Preisbildungsprozess wird Marginal Pricing genannt. Am Strommarkt hat sich das Merit-Order-Modell etabliert, weil es beschreibt, nicht vorschreibt, warum die Kraftwerke in einer bestimmten Reihenfolge zum Einsatz kommen.

Definition

Grenzkosten

Grenzkosten sind die Kosten, die jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgewendet werden müssen, um eine zusätzliche Einheit einer Ware oder eines Gutes zu produzieren. Grenzkosten sind nicht zu verwechseln mit Stückkosten, die auch investitions- und produktionsunabhängige laufende Kosten enthalten. Die Stückkosten der Stromerzeugung werden Stromgestehungskosten genannt, Englisch: Levelized Cost of Electricity (LCoE).

Merit Order

Merit Order ist ein ökonomisches Modell, das erklärt, wie die Reihenfolge entsteht, in der Kraftwerke auf einem bestimmten Strommarkt eingesetzt werden, um den Elektrizitätsbedarf zu decken. Übersetzt werden kann Merit Order mit „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“. Eine andere Bezeichnung ist Supply Stack Model (Deutsch: Versorgungsstapelmodell). Inzwischen ist mit Merit Order auch in Fachkreisen oft die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke selbst gemeint.

Welche Kraftwerke haben welche Grenzkosten?

Die Grenzkosten eines Kraftwerks sind die Kosten, die die Erzeugung einer weiteren Megawattstunde Strom kostet. Sie hängen maßgeblich vom Primärenergieträger ab, aber auch von der Kraftwerksart und der Situation, in der die Elektrizität erzeugt werden soll. In den vergangenen Jahren haben sich die Grenzkosten der Kraftwerke in Deutschland teils deutlich geändert und damit auch die Merit Order.

Grenzkosten Erneuerbarer Energien

Wind und Sonne

Wind und Sonne mögen zwar volatil sein, aber wenn sie zur Verfügung stehen, ist das kostenlos. Investitions- und Betriebskosten von Windrädern oder PV-Anlagen ändern sich kaum, egal wie viel Strom sie produzieren, da die Abnutzung gering ist und der Personalaufwand weitgehend unabhängig von der Betriebsführung ist. Die Grenzkosten sind daher nahe Null.

Biomasse

In Deutschland sind die effektiven Grenzkosten von Biomassekraftwerken in der Regel deutlich niedriger als die von konventionellen Kraftwerken, die fossile Brennstoffe verwenden, obwohl sie operativ eine ähnliche Kostenstruktur haben wie thermische Kraftwerke. Das liegt zum einen an der Förderung der Biomasse, zum anderen an den CO2-Emissionszertifikaten, die für das Freisetzen fossilen Kohlendioxids erworben werden müssen.

Grenzkosten von Kernkraftwerken

Kernkraftwerke haben sehr hohe Investitions-, aber sehr niedrige Grenzkosten, vor allem wenn der Reaktor gleichmäßig auf effizientem Niveau läuft. Die An- und Abfahrkosten sind so hoch, dass Betreiber den Strom lieber stundenweise zu einem Preis unter ihren Grenzkosten verkaufen, als weniger zu erzeugen. Ohnehin eignen sich Atomkraftwerke kaum, um die Schwankungen der erneuerbaren Einspeisung auszugleichen. Denn es dauert ein bis zwei Tage, um ein „kaltes“ Kernkraftwerk auf die volle Leistung zu bringen. In Deutschland liefen die Meiler in den letzten Jahren bis zu ihrer Abschaltung meist auf Volllast durch.

Grenzkosten thermischer Kraftwerke

Für jede Einheit Strom muss bei thermischen Kraftwerken eine bestimmte Menge Brennstoff eingesetzt werden. Die Grenzkosten thermischer Kraftwerke sind also signifikant. Wie hoch sie sind, hängt hauptsächlich von dem Brennstoff, der Effizienz des Kraftwerks und dem CO2-Ausstoß pro produzierter Einheit Strom ab. Neben den Brennstoffkosten können die Preise der EU-Emissionszertifikate die Grenzkosten von Kraftwerken so stark beeinflussen, dass sich dadurch die Merit Order ändert. Genau darauf zielt die Funktionsweise des Europäischen Emissionshandels ab: Sie soll CO2-intensive Stromerzeugung aus dem Markt drängen.

Abfall

Siedlungsabfall ist ein sehr preiswerter Brennstoff. Kosten fallen im Wesentlichen für den Transport an, wobei die Abfuhr sogar teilweise vergütet wird. Die Grenzkosten von Strom aus Abfall lagen in den letzten Jahren niedriger als bei der Kernkraft.

Braunkohle

Braunkohle hat derzeit die niedrigsten Grenzkosten unter den fossilen Energieträgern. Zumindest gilt das, wenn sie in den effizienteren Kraftwerken der jüngeren Generation verstromt wird. Ältere Braunkohlenkraftwerke benötigen also für dieselbe Menge Strom mehr Kohle, und sie emittieren mehr CO2. Deshalb steigen nicht nur die Rohstoffkosten, sondern auch die Kosten für die Emissionszertifikate.

Steinkohle

Noch 2018 hatten die Steinkohlenkraftwerke etwas höhere Grenzkosten als fast alle Braunkohlenkraftwerke – vor allem, weil der Brennstoff importiert werden muss. 2022 galt das nur noch für die effizientesten Braunkohlemeiler. Grund ist der steigende CO2-Preis: Braunkohle hat höhere Emissionswerte als Steinkohle, deshalb müssen die Betreiber pro erzeugter Megawattstunde mehr Zertifikate erwerben. Die gestiegenen Preise für Emissionszertifikate haben die Merit Order hier also bereits verändert: Die effizienteren Steinkohlenkraftwerke haben sich dank niedrigerem CO2-Ausstoß vor ältere Braunkohlenkraftwerke geschoben.

Erdgas

Viele Gaskraftwerke sind deutlich effizienter als Kohlenkraftwerke, sie wandeln also mehr Primärenergie in nutzbare Energie um: GuD-Kraftwerke, in denen mit dem Gas erst eine Turbine befeuert, und mit der Abwärme noch eine Dampfturbine angetrieben wird, erreichen Wirkungsgrade um 60 Prozent. Gaskraftwerke werden auch häufiger zur Kraftwärmekopplung genutzt; auch dies senkt die Grenzkosten, weil nur ein Teil der Rohstoffkosten auf den Strom entfällt. Und es fallen weniger Emissionskosten an, weil Erdgas vergleichsweise wenig CO2 freisetzt. Dennoch ist Erdgas selbst so teuer, dass es die höchsten Grenzkosten in der Stromproduktion aller drei in Deutschland wichtigen fossilen Brennstoffe aufweist. Das war auch schon vor dem Gaspreisschock 2022 so.

Balkendiagramm zeigt die Strompreise der verschiedenen Erzeugungsarten im deutschen Kraftwerkspark an. In aufsteigender Reihenfolge: Erneuerbare, Kernkraft, Braunkohle, Steinkohle, Erdgas, Erdöl

Selbst mit niedrigen Gaspreisen hatte Strom aus Gaskraftwerken etwas höhere Grenzkosten als Steinkohlenmeiler. Strom aus Ölkraftwerken war damals durchweg teurer. Quelle: FFE

Der drastische Anstieg des Gaspreises hat eine weitere Änderung der Merit Order bewirkt. Durch die zeitweise Verzehnfachung des Gasstrompreises von ca. 45 auf ca. 450 Euro pro Kilowattstunde sind zeitweise die Mineralölkraftwerke in der Merit Order vor sämtliche Gaskraftwerke gerutscht.

Balkendiagramm zeigt die Strompreise der verschiedenen Erzeugungsarten im deutschen Kraftwerkspark an. In aufsteigender Reihenfolge: Erneuerbare, Kernkraft, Braun- und Steinkohle im Wechsel, Öl- und Gaskraftwerke

Merit Order in Deutschland 2022 bei einem Gaspreis von 311,61 Euro: Strom aus Gaskraftwerken ist mehr als doppelt so teuer wie alle anderen relevanten Erzeugungsarten. Einige ältere Braunkohlenkraftwerke haben aufgrund des höheren CO2-Preises bereits höhere Grenzkosten als einige Steinkohlenkraftwerke. Quelle: FFE

Dieser Affekt hat sich teils wieder umgekehrt, nachdem der Gaspreis gesunken war. Künftig ist damit zu rechnen, dass Gaskraftwerke in der Merit Order weiter nach vorne rücken, wenn Braun- und Steinkohlen ihren Vorteil bei den Beschaffungskosten durch steigende CO2-Preise verlieren. Interessant wird zu sehen sein, wann die heutigen Gaskraftwerke mit CO2-neutralem Wasserstoff betrieben werden. Und wo sie mit den hohen H2-Erzeugungskosten, aber ohne Kosten für Emissionszertifikate in der Merit Order landen werden.

Balkendiagramm zeigt die Strompreise der verschiedenen Erzeugungsarten im deutschen Kraftwerkspark an. In aufsteigender Reihenfolge: Erneuerbare, Kernkraft, Braun- und Steinkohle im Wechsel, dann ebenfalls im Wechsel Öl- und Gaskraftwerke

Nach Absinken der Gaspreise haben sich die effizienteren Gaskraftwerke wieder vor Ölkraftwerke geschoben. Quelle: FFE

Wie wirken sich die Grenzkosten auf den Strommarkt aus?

Da Strom bisher nicht in signifikanten Mengen gespeichert werden kann, gibt es kaum einen Markt, auf dem es wichtiger ist, das Marktgleichgewicht zu finden. Das bedeutet, einen Gleichgewichtspreis (auch: markträumenden Preis) zu finden, in dem das Angebot exakt der Nachfrage entspricht.

Das Gute: Mit dem Marginal-Pricing-Modell (Grenzpreis-Modell) finden die Akteure auf liberalisierten Märkten (fast) automatisch den Gleichgewichtspreis. Und zwar auf dem Niveau der höchsten Grenzkosten aller Anbieter, die zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt werden, um die Nachfrage zu diesem Gleichgewichtspreis zu decken.

Wie das funktioniert, lässt sich an der Strompreisbildung in Deutschland zeigen: Auf den Termin- und Day-Ahead-Märkten der Strombörse wird die Elektrizität in Pay-as-Clear-Auktionen versteigert. Dabei bieten die Stromerzeuger ihre Leistung zu Grenzkosten an. Die Gebote erhalten nach aufsteigendem Angebotspreis den Zuschlag, bis der Bedarf gedeckt ist. Der Preis des letzten Gebotes gilt dann für alle, deswegen sprich man auch von Uniform Pricing (Einheitsbepreisung).

Dabei ist zu beachten, dass Pay-as-Clear-Auktionen gewissermaßen die institutionalisierte Version des Prozesses darstellen, die das Marginal Pricing beschreibt. Sie kürzen den vorgezeichneten Weg zur Preisfindung also im Grunde nur ab. Tatsächlich funktioniert Marginal Pricing auch ganz ohne Pay-as-Clear-Auktionen.

Was bedeuten die Grenzkosten für die Merit Order?

Das Merit-Order-Modell wiederum beschreibt nicht mehr und nicht weniger als, wie sich das Wirken des Marginal Pricings am Strommarkt auswirkt: Die Stromerzeuger geben ihre Gebote gemäß den Grenzkosten ihrer Kraftwerke ab. Da die Gebote in der Reihenfolge ihres Preises von tief nach hoch Zuschläge erhalten, ergibt sich daraus auch die Reihenfolge, in der die verfügbaren Kraftwerke am Markt zum Einsatz gebracht werden: die Merit Order.

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