Eine Geschichte ÜBER DEN HANDEL, von Amani Joas
Ary war völlig außer Atem und ihre Muskeln schmerzten, während sie hinab zum Hafen hastete. Der Weg hatte ihre Ausdauer und Entschlossenheit auf die Probe gestellt. Doch bei jedem Schritt hatte sie das Gewicht der Nachricht vorangetrieben, die sie mit sich trug, ein Geheimnis, das nur sie kannte – eine Information, die Gold wert war.
Ihr Tag hatte begonnen, noch ehe das erste Licht der Morgendämmerung den Horizont berührt hatte. Ary war um 4 Uhr morgens aufgestanden, hatte Proviant in ihre Tasche gepackt und sich voller Vorfreude auf den täglichen Weg zu ihrem abgelegenen Aussichtspunkt gemacht. Dieses Fleckchen Erde am äußersten Rand der Bucht war ihr Zufluchtsort; von dort aus hatte sie einen Panoramablick auf die schier unendliche Weite des Meeres, das sich bis zum Horizont erstreckte. Hier verbrachte Ary Stunde um Stunde und beobachtete mit wachen Augen die majestätischen Holzschiffe, die in der Ferne auftauchten und vom geschäftigen Hafen von Emporion kündeten.
In ihrer Jugend hatte Ary zahllose Stunden auf diesen zerklüfteten Klippen verbracht und mit an Besessenheit grenzender Faszination das Kommen und Gehen der Schiffe verfolgt. Jedes Schiff erzählte seine eigene Geschichte – vom Mühsal der Fischer, dem Reichtum des Meeres, den Widrigkeiten einer Heimreise. Mit einem alten Fernglas bewaffnet, das sie auf dem Dachboden ihres Großvaters ausgegraben hatte, inspizierte Ary die Decks, um jeden noch so kleinen Hinweis darauf zu entziffern, was der Tagesfang wohl eingebracht haben mochte.
Genau hier, inmitten der salzigen Brise und dem Geschrei der Möwen, hatte Ary ihre Fähigkeit entwickelt, Schiffe zu lesen. Das größte Vergnügen bereitete ihr die Pracht der Fischereiflotte. Ary weidete sich am Anblick der Fischer, wie sie mühsam ihre Netze einholten, ihren Fang sorgfältig sortierten und sich dann mit glühenden Pfeifen eine wohlverdiente Pause gönnten. Trotz ihrer Müdigkeit lag ein spürbares Gefühl von Zufriedenheit in der Luft, das von ihrem unermüdlichen Einsatz und den Früchten ihrer Arbeit zeugte.
Durch scharfe Beobachtung und beflissene Analyse verfeinerte Ary ihre Fähigkeit, die Beschaffenheit eines jeden Fangs zu erkennen – die feinen Nuancen, die von Erfolg oder Enttäuschung kündeten. Das Zählen der Fässer war ein einfaches Maß des Erfolgs, den tiefsten Einblick in die Fahrt bot jedoch das Verhalten der Fischer. Eine ruhige, zufrieden an ihren Pfeifen paffende Mannschaft signalisierte einen guten Fang, während ein leeres Deck und strenge Gesten des Kapitäns Unruhe auf hoher See verrieten.
Es hatte mehr als ein Jahr gedauert, bis Ary den wahren Wert ihrer Gabe, Schiffe zu lesen, erkannte. Die Erkenntnis kam ihr, als sie einen Fischhändler am Ende eines Markttages sein Leid klagen hörte.
„Der ganze Fisch wird verderben“, jammerte der Kaufmann voller Bedauern. „Ich habe ihn zu spät gekauft, und nun will niemand mehr diesen prächtigen Stör haben. Was für eine Schande!“
„Zu spät gekauft ...“, wiederholte Ary in Gedanken und dachte über die missliche Lage des Händlers nach. Die Teile des Puzzles fügten sich zusammen, als sie die Situation analysierte. Der Mann hatte nicht früher gehandelt, weil es ihm an Voraussicht fehlte – er wusste nicht, wie viel Fisch im Hafen ankommen würde. Ein magerer Fang bedeutete ein kleines Angebot und erhöhte Preise, während eine reiche Ausbeute Überfluss und niedrige Preise zur Folge hatte. Und im Falle eines Überschusses würde sogar kostenloser Fisch unverkauft auf dem Müll landen.
„Aber ich weiß es“, dachte Ary, als ein Funke der Erkenntnis in ihr aufblitzte. „Ich weiß vor allen anderen, ob es Ebbe oder Flut auf dem Fischmarkt geben wird.“
Das neu gefundene Wissen loderte in Arys Geist, und sie setzte sich zum Ziel, dass kein Fisch mehr verschwendet würde – und dabei vielleicht sogar noch etwas Geld zu verdienen. An ihrem Aussichtspunkt auf den Klippen heckte sie einen Plan aus, um ihre Beobachtungen in handfeste Taten umzusetzen.
Auf dem geschäftigen Marktplatz von Emporion, wo schwerer Salzgeruch und die Rufe der Händler die Luft erfüllten, zappelte der Preis für Stör wie ein Fisch im Netz. Wenn eifrige Käufer auf Großmarktauktionen um den Tagesfang buhlten, erzielte ein Dutzend Pfund Stör an gewöhnlichen Tagen die stolze Summe von 6 Solidus. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang versammelten sich die Händler, um ihre Gebote abzugeben in der Hoffnung ihren Anteil am Reichtum des Ozeans zu ergattern. Doch trotz aller Bemühungen ließ ihnen der starke Wettbewerb auf dem Fischmarkt nur eine dünne Gewinnspanne von 2 Solidus zwischen Groß- und Einzelhandelspreis.
In Momenten des Überflusses, wenn die Netze von silberschuppigen Schätzen überquollen, sank der Großhandelspreis für ein Dutzend Pfund auf bescheidene 4 Solidus und konnte an einem Tag mit besonders üppigem Fang sogar auf 2 Solidus fallen. Wenn der Ozean dagegen wenig hergab, stiegen die Preise auf bis zu 10 Solidus und mehr. Und in seltenen Fällen, wie an jenem schicksalhaften Tag, an dem zwei Schiffe im Hafen zusammenstießen, herrschte Chaos und die Preise schnellten auf unglaubliche 30 Solidus – ein Ereignis, das für immer in die Annalen Emporions eingehen würde.
Inmitten dieses Marktgetümmels versuchte Ary mit scharfem Blick Auge und geschliffenem Verstand, ihr eigenes Glück zu finden. "Ich besitze die Gabe des Wissens und die Gabe der Zeit“, sinnierte Ary und überlegte, wie sie dies für einen größeren Zweck nutzen könnte. Sie spielte sie mit dem Gedanken, die Händler einfach über den Tagesfang zu informieren und auf eine Entschädigung für ihre Dienste zu hoffen. Doch Ary reizte der Nervenkitzel, die Ausbeute vorherzusagen und die Verantwortung – oder das Risiko – dafür auf sich zu nehmen. Und so ging sie einem anderen Plan nach.
Eines Tages, als Ary besonders sich war, dass sie einen außergewöhnlich reichen Fang erspäht hatte, eilte sie zurück zum Hafen, als sich die Morgendämmerung gerade über den Horizont erhob, und suchte den größten Störhändler am Ort auf – ein Mann, den alle Spotty nannten.
„3 Solidus für ein Dutzend“, erklärte Ary stolz.
Der Kaufmann musterte sie verwirrt. „Was meinst du?“, fragte Spotty.
„3 Solidus für ein Dutzend Pfund Stör“, wiederholte Ary zuversichtlich. „Ich biete Euch ein Dutzend Pfund Stör für 3 Solidus an.“
Der Händler lächelte höhnisch. „Du hast keinen Fisch, den du mir verkaufen könntest, kleines Mädchen. Hau ab! Ich habe zu tun.“
Unbeirrt antwortete Ary: „Ich mag noch keinen Fisch besitzen, aber ich habe vor, welchen bei der Auktion zu ersteigern, und ihn Euch für 3 Solidus zu veräußern.“
Der Händler spottete: "Lachhaft! Der normale Auktionspreis beträgt 6 Solidus. Warum willst Du sie mir jetzt für 3 Solidus verkaufen?"
„Das soll nicht Eure Sorge sein“, erwiderte Ary. „Ihr könnt sie für 3 Solidus kaufen und Eure Kunden über die Gelegenheit in Kenntnis setzen, günstige Fischgerichte zu genießen. Sie könnten sogar Sonderangebote nutzen, um mehr Gäste in ihre Lokale zu locken.“
Spotty grübelte über Arys Vorschlag nach. Vielleicht besaß sie ihm unbekannte Einblicke. Normalerweise zahlte er 6 Solidus, da war der Erwerb von Stör für 3 Solidus ein verlockendes Angebot. Er zögerte jedoch, weil er in Betracht zog, dass die Preise deutlich niedriger ausfallen könnten, falls sich es an diesem Tag einen außergewöhnlich großen Fang gab. Schließlich kam der Händler zu folgender Überlegung: Wenn ich auf ihren Preis eine Gewinnspanne von 2 Solidus aufschlage, kann ich mit meinen wichtigsten Kunden und Restaurants schon jetzt Geschäfte abschließen. Sie werden froh sein, für 5 Solidus zu kaufen. Außerdem sind es noch zwei Stunden bis zur Auktion, sodass genügend Zeit für die Planung bleibt. Wenn ich für 3 Solidus einkaufe und für fünf verkaufe, werde ich viel mehr Fisch verkaufen als an einem normalen Tag und einen beträchtlichen Gewinn erzielen.
„Einverstanden!“, sagte Spotty endlich und schüttelte feierlich Arys ausgestreckte Hand. „Komm um 10:10 Uhr nach der Auktion wieder und liefere mir den Fisch. Ich werde dir 3 Solidus bezahlen. Und nun mach dich auf, ich muss mich um meine Kunden kümmern“, schloss der Kaufmann brüsk.
Ary und der Händler waren sich einig über den Verhaltenskodex von Emporion, nach dem ein Händedruck ein Geschäft besiegelte. In einem Bereich, in dem Vertrauen an erster Stelle stand und gebrochene Vereinbarungen schwerwiegende Konsequenzen nach sich zogen, war es undenkbar, eine Vereinbarung per Handschlag zu brechen.
Nachdem das Geschäft also besiegelt war, machte sich Ary auf den Weg zur Auktion . Ihre Intuition erwies sich als zutreffend: Es handelte sich in der Tat um einen prächtigen Fang, und die zum Verkauf stehenden Mengen waren so groß, dass sich der Preis auf nur 2 Solidus pro Dutzend Pfund einpendelte. Ary kaufte die Ware schnell ein und brachte sie zum Händler , der ihr wie vereinbart und ohne Umschweife die versprochenen 3 Solidus zahlte.
Spotty war sehr zufrieden und bereute nichts, hatte er doch selbst vorteilhafte Geschäfte gemacht, weil er seinen Klienten Fisch zu außergewöhnlichen Preisen hatte anbieten können. Am bekanntesten Restaurant Emporions prangte bereits ein Schild mit der Aufschrift „Stör-Dinner – Sonderangebot heute Abend“ und schon jetzt hatte es eine große Anzahl von Gästen angelockt, die eine köstliche Mahlzeit genießen wollten . In der Gewissheit, dass die erschwinglichen Preise viele Bürger überzeugen würden, sich eine Mahlzeit mit frischem Fisch zu gönnen, hatte der Besitzer der Gaststätte den Ausrufer der Stadt engagiert, um sein Sonderangebot in allen Straßen des geschäftigen Emporion bekannt zu machen. Dank der rechtzeitigen Initiativen war bereits vor Ende der Auktion ein beträchtlicher Teil des Tagesfangs in ganz Emporion verzehrt worden, so dass kein einziger Fisch auf dem Müll landete.
Ermutigt von ihrem Erfolg und den Gewinnen, die er ihr einbrachte, begab sich Ary nun täglich auf den Weg hinunter zum Hafen und weitete nach und nach ihren Kundenkreis aus. Sie verkaufte Fisch, bevor er überhaupt an Land gebracht wurde, um ihn später am selben Morgen zu kaufen und auszuliefern. Im Laufe der Zeit knüpfte sie Kontakte zu den Kapitänen der Fangschiffe, die ihr den Fisch direkt verkauften und sich so die Mühe sparten, den Fisch auf den Marktplatz zu bringen, um an den Auktionen teilzunehmen. Natürlich waren Arys Vorhersagen über die Fangmengen nicht immer zutreffend, was in einigen Fällen zu finanziellen Verlusten bei den von ihr initiierten Geschäften führte. Doch mit jeder Erfahrung schärfte sie ihre Fähigkeit, die schwankende Dynamik von Angebot und Nachfrage auf dem Markt einzuschätzen, und wurde zu einer beliebten und angesehenen Kauffrau.
Mit wachsendem Geschäftserfolg investierte Ary in ein Fuhrwerk, um den Fisch von der Auktion zu den Händlern zu bringen. Später würde sie sich ein Pferd kaufen, um schneller zu ihrem Ausguck und zum Hafen zu gelangen. Sie überlegte sogar ein Kühlhaus zu unterhalten, um Fisch lagern zu können. Ihre Kunden gewöhnten sich an Arys subtilen, aber wirkungsvollen Kommunikationsstil, mit dem sie allein durch ihre Gebote und Angebote für den Fisch wertvolle Informationen weitergab. Indem sie frühzeitig Einblicke in die Marktpreise gewährte, versetzte Ary die Kunden in die Lage, gemäß der Verfügbarkeit von Fisch zu handeln. Ary leistete damit einen wertvollen Beitrag für die Menschen in Emporion, denn sie schenkte ihnen sowohl Zeit als auch Informationen. Durch ihre Beobachtungen und die unermüdliche Erforschung ihrer Umgebung entwickelte sie sich zu einer erfolgreichen Jungunternehmerin, die das Leben ihrer Mitmenschen bereicherte. Natürlich gab es wichtigere Dinge im Leben der Bürger von Emporion als den Verzehr von Fisch, aber es half ihnen dennoch und machte ihr Leben ein wenig besser.
All das war ihr jetzt egal, als sie zurück zum Hafen rannte und nichts als Wissen mit sich trug. Die Fischbestände waren im letzten Jahr geschrumpft, und die Preise waren gestiegen, weil die Menschen in Emporion von ihrer traditionellen Ernährung abgewichen waren. Heute aber würde es anders sein. Sie hatte gesehen, was kein Händler mehr für möglich gehalten hatte: Sechs große Schiffe, bis zum Rand gefüllte Fässer und Matrosen, die vor Freude über ihren guten Fang jubelten und sangen.
Sie lief den letzten Abschnitt der Strecke in der Gewissheit eines Extragewinns. Doch das Glück war heute nicht auf ihrer Seite. Sie schrie auf, als sie fiel. Sie lag im Staub und hielt sich die Füße, die auf teuflische verdreht waren, und wusste, dass sie ihr in nächster Zeit nichts mehr nützen würden. Sie lag erschöpft und außer Atem im Sand und wusste, dass diese Gelegenheit vorbei war und ihre Botschaft für die Welt verloren war.
Als die Sonne aufging sahen sich die Händler von Emporion ratlos um, weil sie Ary nicht sahen. Sonst war sie jeden Tag dort und rief ihre Fischpreise über den Markt. Sie hatten sich daran gewöhnt, Geschäfte mit ihr zu machen oder sie zumindest zu hören, um selbst abzuschätzen, wie sich die Fischpreise entwickeln würden. Doch sie war nirgends zu sehen. Die ersten Kunden und vor allem die Köche der Restaurants standen herum und warteten auf die ersten Angebote, um ihre Menüs zu planen. Aber niemand konnte ihnen einen Preis nennen. Alle kehrten in ihre Restaurants zurück, setzten das „Übliche“ auf die Speisekarte und setzten ihr Tagwerk fort.
Als die Schiffe zur Versteigerung einliefen, sahen die Kaufleute, was auf sie zukam. Glückliche Matrosen, volle Fässer. Heute würde ein fischreicher Tag werden. Die Preise bei der Auktion pendelten sich bei nur 1 Solidus ein. Schließlich war die Nachfrage nach Fisch in den letzten Monaten zurückgegangen und die Händler wussten nicht, wer die ganze Ware kaufen sollte. Kunden kamen auf den Markt und kauften etwas Fisch, aber sie waren nicht auf diese Mahlzeit vorbereitet und kauften trotz der günstigen Preise nur sehr wenig. Und so wusste den Segen des großen Fangs so recht zu schätzen, und eine Menge Fisch landete im Becken des schönen Hafens von Emporion.
„Was für eine verdammte Verschwendung“, sagte der Händler Spotty und fragte sich, was mit dem Mädchen war, das ihm sonst immer gute Preise und Sicherheit für den kommenden Tag gab. Als er seinen Stand gerade schloss, sah er die energische kleine Person auf selbstgebauten Krücken auf ihn zu hüpfen.
„Keine Sorge, Spotty“, sagte Ary mit einem Lächeln. „Morgen bin ich wieder da.“